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albano, Oaxaca (Mexiko) im Januar 1999
Ich übernachte auf einem unbenutzten Weg in einem Feuchtwald, bestes Umfeld für das Gedeihen von allerhand Kleingetier. Am Morgen werde ich von Zecken belästigt. Eines dieser Biester schreckt nicht einmal davor zurück, mich in voller Fahrt unter dem Handschuh in den Finger zu beissen. Auch im Paradies gibt es Parasiten.
Ferienorte in allen Grössen
Weiter südlich folgen entlang der Küste immer wieder Touristenorte. Einer dieser Orte heisst Sayulita. Er liegt etwas neben der Hauptstrasse, direkt am Meer in einer Bucht. Ich besuche hier ein Ehepaar, das ich auf der Fähre nach Mazatlán kennengelernt habe. Vom Haus der beiden kann man die ganze Bucht überblicken, ein paar Häuser, einige Zeltplätze, viele Palmen, traumhafter Sandstrand. Die Erholungssuchenden mit ihren Surfbrettern bilden gegenüber den Einheimischen einen seltsamen Kontrast, schon nur wegen den verschiedenen Haut- und Haarfarben, doch man hat sich aneinander gewöhnt.
Am Donnerstag, 3. Dezember fahre ich in Puerto Vallarta ein, wieder ein Ferienmekka, diesmal etwas grösserer Dimension. Schon am Nachmittag herrscht emsiger Betrieb. Gegen Abend ist plötzlich lautes Knallen zu vernehmen. Kein Bürgerkrieg - die Leute sammeln sich entlang der Hauptgasse, um die Prozession zu Ehren der Jungfrau von Guadalupe vorbeiziehen zu sehen. Diese wird Anfangs Dezember täglich wiederholt und mündet am 12. in ein Volksfest. Ein Passant bietet mir meinen ersten Schluck Tequila (Agavenschnaps) an, wie es sich gehört mit einem Tropfen frischem Limonensaft hinterher.
Die Stadt kommt nicht zur Ruhe - ich auch nicht. Ich setze mich vor der Disco mit der lautesten Musik an der Strandpromenade hin und beobachte, wie die Mexikaner den Touristinnen nachpfeifen. Mein Fahrrad erfüllt seinen Zweck. Einige Leute bewundern es und beginnen Fragen zu stellen.
Kontraste - Akzente
Noch vor Tagesanbruch verlasse ich Puerto Vallarta wieder und fahre landeinwärts. Auf die komfortablen Hauptstrasse folgt, wie vorgesehen, eine schmale Naturstrasse. Sie hält sich ziemlich genau ans Gelände, und dieses ist recht ruppig. Die Strasse selbst gleicht eher einer Buckelpiste und Bachdurchquerungen sind keine Seltenheit. Doch der absolute Hammer kommt erst gegen Abend: einige hundert Meter Steigung ausserhalb jeder Norm. Fahren ist nicht möglich; das Hinterrad rutscht durch. Auch zu Fuss hat man kaum genügend Halt am Boden. Irgendwie schaffe ich es trotzdem nach oben.
Bald darauf komme ich in einem Dorf an. Auch hier soll in den nächsten Tagen ein Riesenfest steigen. Die Kirche ist schon mit Girlanden geschmückt. Auf der Dorfwiese wird gerade die Festwirtschaft eingerichtet, die noch am selben Abend den Betrieb aufnimmt. Viel ist noch nicht los. Einige Männer sind unter sich, und es geht, einmal mehr, um Frauen. Auch hier wird schon heute Abend mit laut knallendem Feuerwerk Stimmung gemacht.
Am nächsten Tag erwartet mich wieder Naturstrasse, aber ohne grössere Überraschungen. Ich erreiche Mascota. Ab hier steht wieder eine breite Strasse mit hartem Belag zur Verfügung, die provisorische Umfahrung eines Erdrutschgebietes ausgenommen. Nun ist es wieder etwas kühler. Doch auch unter diesen Bedingungen fühlen sich lästige Insekten wohl. Diesmal handelt es sich um winzige Fliegen, deren Bisse ähnliche Spuren hinterlassen wie Mückenstiche. Lange Beinkleidung ist zu empfehlen.
Am 7. Dezember mache ich gegen Abend am Stadtrand von Tala Halt. Die vielen Mädchen in der nahen Siedlung sind Grund genug, mein Zelt für die Nacht auf dem dortigen Spielplatz aufzuschlagen. Eine der jungen Frauen lädt mich auf ein Glas Milch zu sich nach Hause ein, eine andere schenkt mir eine Rose und einer dritten wegen fällt es mir am nächsten Tag enorm schwer, nach Guadalajara weiterzuziehen.
Guadalajara ist die zweitgrösste Stadt des Landes, trotzdem recht übersichtlich. In deren Zentrum befindet sich die Kathedrale, darum herum verschiedene historische Gebäude und einige verkehrsberuhigte Plätze und Gassen. Die Innenstadt ist weihnächtlich geschmückt; mit einem abstrakten Tannenbaum aus konisch angeordneten Seilen mit grünen Borsten, mit farbigen Lichterketten entlang der Fassaden, mit grossen, glitzernden Netzen in Form von Glocken und Sternen, welche über den Strassen hängen.
Sprache und andere Geräusche
Ein günstiges Hotel kann in Mexiko durchaus billiger sein als ein Zeltplatz, welcher ausserdem kaum in der Stadtmitte anzutreffen ist. Ich wohne also einige Tage im Hotel und arrangiere mich mit den Wanzen, die ab und zu in meinem Zimmer vorbeischauen. Die Nachbarin im Raum unter mir ist nicht immer zu Hause. Wenn sie aber da ist, wird sie von ihrem Partner deutlich hörbar von einem Orgasmus zum nächsten gejagt. Ich warne meine US-amerikanische Besucherin, welche ich an einem Abend zu mir zum Essen einlade, vor den beiden. Schliesslich ist sie einigermassen enttäuscht, dass meine Nachbarn gerade im Ausgang sind.
Ich lade nicht nur ein, sondern werde auch eingeladen. Die beiden spanischen Gaststudentinnen, welche in einer Art studentischen Wohngemeinschaft untergebracht sind, amüsieren sich köstlich über mein mexikanisches Vokabular und meinen lateinamerikanischen Akzent. Der Pförtner beim Freizeitzentrum der landesweit bekannten Bierbrauerei lässt mich verschiedene Biersorten ausprobieren und testet meine Aussprache von mexikanischen Ortsnamen. Nicht unerwähnt bleiben darf meine Schlagzeug-Sitzung in einer Internet-Bar während ich auf das Hochfahren der Computer warte. Ich ernte keinen Applaus, doch ich bin schon zufrieden, dass mich keiner der wenigen Gäste bittet, doch mit dem Unsinn aufzuhören.
Ich schaue bei verschiedenen Fahrradgeschäften vorbei und halte nach Ersatzteilen Ausschau. Das vorhandene Angebot ist nicht auf Tourenräder ausgerichtet, und ich befürchte, dass ich mit dem erhältlichen Zubehör nicht einmal ohne Panne die Landesgrenze erreichen würde, weshalb ich eine Wunschliste mit Fahrradteilen nach Bern schicke.
Umwege und Schrecksekunden
Am Dienstag, 15. Dezember fahre ich nach Süden bis Chapala am gleichnamigen See mit umliegenden Sumpfgebieten. Die Strasse, die dem Ufer entlang ostwärts führt, ist ziemlich holprig, so dass ich schliesslich auf die einige Kilometer entfernt parallel verlaufende Hauptstrasse wechsle.
Vom Freitag auf den Samstag übernachte ich in einem Wald. Der nächtliche Nebel ist abgezogen, ich habe das Zelt bereits zusammengeklappt und richte noch etwas an meinem Gefährt, als an der nahen Strasse ein Auto hält. Dessen Insassen verteilen sich im Wald, vielleicht um Brennholz zu sammeln. Das Kind, dass in meine Richtung ausschwärmt, entdeckt mich im dichten Buschwerk recht spät, traut vermutlich seinen Augen nicht, und bevor ich reagieren kann, ist es weggerannt. Als ich wenig später mit Sack und Pack die Strasse erreiche, ist keine Menschenseele mehr zu sehen.
Am gleichen Tag erklimme ich in der samstäglichen Verkehrslawine Pátzquaro, das etwas abseits der Strecke auf einer Anhöhe liegt und einige ruhige Plätze sowie eine Handvoll Kirchen zu bieten hat. Die Grösste von ihnen ist teilweise eingerüstet. Es bleiben rund sechzig Kilometer bis Morelia. Ich habe zur Abwechslung Lust auf ein rennmässiges Tempo, welche von der vierspurigen Schnellstrasse noch verstärkt wird. Dass ich dabei etwas verdutzte Zweiradfahrer ohne Gepäck überhole, lässt sich kaum vermeiden. Sozusagen als ersten Preis reicht man mir bei der Einfahrt in die Stadt eine Orange aus einem vorbeifahrenden Auto.
Stadt und Land und kulinarische Tiefflüge
In der Nähe des belebten Busbahnhofes hat es viele günstige Restaurants. Meine Enchiladas suizas (mit Huhn gefüllte Teigfladen) geniesse ich zu einem Actionstreifen aus der Küche Hollywoods, der im Fernseher läuft. Das Hotelzimmer, das ich beziehe, ist so eng, dass man sich kaum darin bewegen kann.
Morelia hat Charakter; im Zentrum die obligate Kathedrale, entlang der Ausfallstrasse nach Osten, beginnend bei einem grünen Platz mit Brunnen, das Aquädukt. Auch am Sonntag ist einiges los. Kirchgänger vermischen sich mit Touristen. An den vielen Marktständen auf den belebten Plätzen ist scheinbar alles zu haben.
Nach Morelia folgt eine verkehrsarme Strecke durch ein abgeschiedenes Gebiet mit bewaldeten Hügeln, auf der Karte als Nationalpark gekennzeichnet. Immer noch Grün soweit das Auge reicht. Am Montag, 21. Dezember treffe ich in dieser Wildnis den zweiten Tourenfahrer in Mexiko, einen technikbegeisterten Deutschen auf einem windschnittigen Liegerad. Einen grossen Teil seines Gepäcks verstaut er im Schalensitz seiner Maschine.
Am Abend des folgenden Tages brauche ich das Zelt nicht aufzustellen. Eine junge Familie teilt in Ciudad Hidalgo ihr noch nicht einmal fertiges Haus mit mir. Die Küche verharrt im Rohbau, und eine Feuerstelle vor dem Haus dient als Ersatz. Zum Abendessen gibt es gewöhnliche Spaghetti aus meiner eigenen Küche.
Weihnachtsfeste - Weihnachtspannen
Am Mittwoch kurve ich durch Zitáquaro auf der Suche nach einem Lebensmittelgeschäft. Nach einer zügigen Abfahrt sehe ich mich plötzlich mit einem Tope konfrontiert, mit einem Walm quer über die Strasse, welcher den Verkehr abbremsen soll. Diese Hügel kommen in besiedelten Gebieten in allen Formen und Varianten vor, manchmal mit, manchmal ohne Vorwarnung.
Auf dem Tope in Zitáquaro bin ich zu schnell. Ein reparierter Bügel meines vorderen Gepäckträgers gerät in Schwingung und in die Speichen, genau wie damals in Tschechien. Die Folgen sind bekannt: Gabel und Vorderfelge sind unbrauchbar. Das Fahrrad muss in die Werkstatt getragen werden. Eine Familie, die gleich neben dem Unfallort wohnt, hütet mein Gepäck und hilft mir bei der Suche nach einem Hotel.
Nach einem unfreiwilligen Ruhetag verbringe ich Heilig Abend bei der gleichen Familie. Die sieben Geschwister sind alle anwesend, ebenso ihre Ehepartner und Kinder. Wie in meiner Heimat auch, gibt es Geschenke und einen Weihnachtsbaum. Dieser wird allerdings hier mit blinkenden Glühbirnen beleuchtet und nicht mit Kerzen. Zudem wird eine Piñata aufgehängt, ein geschmückter Tonkrug mit Süssigkeiten, welchen die Kinder der Reihe nach mit verbundenen Augen und einem Stock zu zerschlagen versuchen, auf dass sein Inhalt zum Vorschein komme.
Auch in den Gassen wird gefeiert. Vor vielen Häusern sitzen die Leute bis am frühen Morgen an improvisierten Feuerstellen. Wieder werden die Festlichkeiten von Knallfröschen begleitet. Sie erzeugen einen solchen Lärm, dass mein frühmorgendliches Klopfen an die Eingangstür des Hotels nicht gehört wird und ich den Rest der Nacht schreibend auf dem Stadtplatz verbringe. Ein Betrunkener leistet mir Gesellschaft.
Höhentraining
Samstag, 26. Dezember: Ich erreiche Toluca. Die Stadt liegt mit zweieinhalbtausend Metern über Meer einiges höher als die Landeshauptstadt und ist deshalb bei Radfahrern beliebt fürs Höhentraining. Ich werde schon wieder nach Hause eingeladen, diesmal von einem Übersetzer, der obendrein gut kochen kann.
Mein Gastgeber wohnt in Metepec, südlich von Toluca, ein idealer Ausgangspunkt für einen Ausflug auf den Vulkan Nevado de Toluca. Die Mountain-Bike-Fahrer, die ich am Fuss des Berges treffe, empfehlen für den Aufstieg über Feld- und Waldwege breitere Reifen. Ein anderer Biker begleitet mich über eben diese Feld- und Waldwege nach oben. Auf über viertausend Meter erreichen wir die Strasse, die von Westen her aufsteigt. Bis zum Kraterrand fehlen noch einige hundert Höhenmeter, doch angesichts der vorgerückten Stunde, beschliessen wir den Abstieg auf dem schnellsten Weg. Am Abend steht dann noch ein Rundgang durch Metepec auf dem Programm, und ich entdecke seine kunsthandwerkliche Spezialität: fein verästelte Tonwaren in Baumform in jeder Art und Grösse.
Verkehrschaos im Herz des Landes
Auf dem Weg nach Mexiko-Stadt werde ich wieder einmal Opfer eines Diebstahls: Ein Hund lässt meinen Salami verschwinden, während ich mich mit seinem Besitzer unterhalte. Nach einer langen Abfahrt komme ich im Stadtzentrum an. Der Verkehr in der Innenstadt fliesst langsam und ist deshalb für mich erträglich. Auch die Luftverschmutzung hält sich in Grenzen. Trotzdem sieht man in den Gassen einige Leute mit Tüchern vor Mund und Nase.
Ich nehme mir einen Tag Zeit, um in die Stadt einzutauchen, um wenigstens den Chapultepec-Park, die Zentral-Allee mit ihren Marktständen, die auch hier eingerüstete Kathedrale und den Zócalo zu sehen, den kahlen, aber stets bevölkerten Platz vor der Kathedrale. Auch hier prangt noch die Weihnachtsdekoration mit ihrem dreidimesionalen Stern inmitten des Platzes als Brennpunkt.
Am Mittwoch habe ich einige Mühe, die Stadt zu verlassen. Ich zwänge mich durch enge Gassen, umflutet von Fahrzeugen und von noch mehr Fussgängern, dem allgemeinen Verkehrsfluss folgend lange in die falsche Richtung. Plötzlich hat es nur noch Fussgänger um mich. Die Menge legt mir nahe abzusteigen. Es stellt sich heraus, dass eine Demonstration für mehr Arbeitsplätze den Verkehr lahmlegt.
Auf meinem Weg nach Norden schaue ich kurz bei den von Besuchern triefenden beiden Basiliken von Gaudalupe vorbei. Darauf folgt der schwierigste Strassenabschnitt auf Stadtgebiet: Eine Einfahrt führt von innen auf eine zehnspurige Schnellstrasse. Es nützt nichts anzuzeigen, dass ich gerne an den äusseren Rand fahren möchte. Der nachfolgende Verkehr bremst nur ab, wenn er vor Tatsachen gestellt wird.
Ich übernachte im Garten von hilfsbereiten Mitmenschen und darf - einmal mehr - gleich am Esstisch Platz nehmen, wo sich eine lange Diskussion über religiöse Fragen entwickelt. Eine ganz andere Religion als die uns bekannten mögen die Erbauer der Pyramiden von Teotihuacán gehabt haben, welche aus dem dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung stammen sollen. Ich besuche die erstaunlichen Bauwerke am letzten Tag des Jahres, mit mir viele andere Touristen aus aller Welt. Eine ganze Armee von fliegenden Händlern versucht, uns allerlei Waren anzudrehen.
1998 endet für mich um Punkt 17.00 Uhr. Ich stosse in einer Kneipe in Ciudad Sahagún mit den anderen Gästen auf den Jahreswechsel in der Schweiz an.
© 24.1.1999 albano & team