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albano, Ciudad de México im Dezember 1998
Schon Mitte Oktober hat sich mein ehemaliger Reisepartner per elektronischen Brief definitiv von mir verabschiedet. Ich werde also weiterhin allein unterwegs sein.
Grenzerfahrungen
Nach fast zwei Monaten USA bin ich reif für einen Tapetenwechsel. In meine Richtung ist das kein Problem. Es gibt praktisch keine Kontrollen. Die meisten Leute gehen sowieso nur jenseits der Grenze günstig einkaufen. Ich hingegen benötige eine Touristenkarte und suche das Büro des Amtes für Migration. Dieses ist klein und kaum zu sehen, weil nämlich der Beamte davorsteht.
Auf der anderen Seite der Grenze herrscht buntes Treiben. Entlang der Zufahrtsstrasse Richtung Norden bieten die vielen Marktstände und fliegenden Händler für Ausreisende in der Warteschlange die letzte Gelegenheit zu einem Schnäppchen. In der Innenstadt sieht es ähnlich aus: verstopfte Strassen und eine Fülle von Waren zu Preisen weit unter dem US-Niveau.
Beim Eindunkeln will ich weiter gegen Süden fahren, erwische aber die Schnellstrasse, die im Norden der Stadt zur Küste führt. Als ich den Fehler bemerke und anhalte, bin ich zwischen der Strasse und einem breiten, hell beleuchteten betonierten Graben anstelle des früheren Flussbettes eingeklemmt. Dieser Graben stellt die Grenze dar und erschwert den illegalen Grenzübertritt. Trotzdem warten auch an diesem Abend einige Duzend, meist junge Männer auf die Wachablösung, um es vielleicht doch unbemerkt auf die andere Seite zu schaffen. Mit einigen von ihnen komme ich ins Gespräch, und wir teilen Käse und Brot.
Als ich dann auf dem Damm zwischen Strasse und Grenze zurückgehe, treffe ich noch mehr Ausreisewillige. Es werden mir allerlei Händel angeboten. Einer der Männer will mir helfen, das Fahrrad über die Mauer auf die andere Fahrspur zu hieven und möchte dafür meine Uhr. Auch diese Leute erhalten von mir etwas Essbares, allerdings mache ich den entscheidenden Fehler, die Verteilung nicht selbst zu übernehmen. Die Zahl der mich umgebenden Leute nimmt sprunghaft zu und dann ebenso schnell wieder ab, als die Margarine, der Streichkäse und die Tortillas (Teigfladen) aufgebraucht sind.
Touristen und Militär
Während ich weiter gegen Süden fahre, gewinnt die spanische Sprache entlang der Strasse nur langsam an Boden. In Tijuana wird denn den Englischsprachigen die Küstenautobahn als "Landschaftlich schöne Strecke" angepriesen. Erst weiter südlich gibt die Beschilderung auf Spanisch die volle Wahrheit preis: "gebührenpflichtig". Ausserdem werden auf Englisch wie in Kalifornien horrende Bussen für das Wegwerfen von Abfall angedroht und auch Grundstücke, Souvenirs und sonst allerlei Waren und Dienstleistungen angeboten. Auch auf den Schulbussen steht auf Englisch geschrieben, dass es sich hier um Schulbusse handle.
Und tatsächlich sind bis weit in den Süden US-Nummernschilder an Fahrzeugen keine Seltenheit. An den Kontrollpunkten, an welchen olivgrün Uniformierte alle paar hundert Kilometer Präsenz markieren, wird denn auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen Posten um eine Dienstleistung handle und dass sich diese keineswegs gegen Touristen richteten.
Staub und Hunde
Nebst der Militärpräsenz sind noch andere Veränderungen offensichtlich, vor allem in den Städten und Dörfern: mehr Staub, mehr Hunde. Den Staub wirbeln die Fahrzeuge von den vielen unversiegelten Strassen auf. Die Hunde sind oft herrenlos und suchen sich ihr Glück auf der Strasse - nicht ganz ungefährlich, wie die vielen toten Exemplare entlang des Weges zeigen.
Zwei Tage nach meinen Erfahrungen an der Grenze treffe ich im Küsteort Ensenada ein. Am Abend des folgenden Tages wird mir dann ein besonders sicheres Nachtlager angeboten. Ich stelle mein Zelt in einem Depot vor Baustellenfahrzeugen neben der Strasse auf. Einer der Arbeiter schiebt dort die ganze Nacht Wache. Ich darf sein Feuer für meine Suppe benützen, sein Trinkwasser anzapfen und erhalte sogar noch Früchte aus dem eigenen Garten mit auf den Weg.
Eine etwas weniger erfeuliche Begegnung mache ich am Freitag, 6. November auf dem Zeltplatz, auf dem ich übernachtet habe. Auch hier gibt es nämlich streunende Hunde. Nachdem ich mein Zelt einige Sekunden aus den Augen gelassen habe, sehe ich einen von ihnen mit meinen Tortillas in der Schnauze davonrennen. Er rennt schneller als ich, und nur durch listiges Vorgehen gelange ich wieder zu meinem Eigentum.
Wüste mit Kakteen
An den folgenden Tagen fahre ich durch einsame Wüstenlandschaft. Die Strasse führt von der Küste weg durch das Innere Niederkaliforniens, umgeben von sanften Hügeln, bizarren Felsblöcken und Wäldern von Kakteen. Von der einzigen Franziskanermission auf der Halbinsel sind nur noch einige Mauerreste zu sehen. Immerhin gibt es entlang der Strasse einige Siedlungen, wo Lebensmittel erhältllich sind und die Ladenbesitzer Zeit haben, ein paar Worte zu wechseln. Mit etwas Glück wird einem auch eine Büchse kühles Coca Cola aus einem vorbeifahrendem Wagen zugestreckt.
Am 10. November überquere ich die Grenze zwischen den beiden Teilstaaten der Halbinsel beim achtundzwanzigsten Breitengrad und passiere dort die riesige Statue eines stilisierten Adlers, den ich ohne den Hinweis in meinem Führer für einen Flugzeugabsturz gehalten hätte. Der Tag nimmt kein gutes Ende. In Guerrero Negro fülle ich Speiseessig, welcher in den gleichen Kanistern verkauft wird wie das Trinkwasser, in meinen Wassersack. Natürlich hätte mir zumindest der auf der Etikette abgebildete Salat auffallen sollen.
Grosse Jungs mit ihren Spielzeugen
Eine beliebte Touristenattraktion sind die Walfische in den Buchten um Guerrero Negro. Die Tiere finden sich aber erst im Dezember hier ein. Ein Spektakel ganz anderer Art bietet sich mir dafür in der Nacht auf den Freitag, 13. November in San Ignacio: Das Auto- und Motorradrennen "Baja 1000" (Meilen) kreuzt meinen Weg. Die Rennstrecke führt von der Hauptstrasse weg durch das Dorf und dann über holprige Naturstrassen durch das unwirtliche Hinterland.
Auf einem Parkplatz kurz nach der Abzweigung auf der Hauptstrasse steht das Servicepersonal schon am frühen Nachmittag bereit. Der erste Motorradfahrer lässt sich aber nicht vor sechs Uhr blicken; ein kurzes Vergnügen. Einige Stunden später herrscht dann an der Rennstrecke Hochbetrieb. Nebst den Motorrädern zeigen sich nun auch Geländefahrzeuge. Die Zuschauer scharen sich und bejubeln die vorbeifahrenden Pferdestärken. Der Polizist betätigt für jeden Teilnehmer die Sirene seines Streifenwagens.
In den Boxen wird unter erschwerten Bedingungen gearbeitet, denn die Leute halten sich nicht an die improvisierten Abschrankungen. Es werden Reifen gewechselt, die unzähligen Scheinwerfer gereinigt. Durch riesige Trichter wird Treibstoff nachgefüllt. Wieviel davon sein Ziel verfehlt ist dabei eher unwichtig. Bei besonders angeschlagenen Fahrzeugen wird auch schon mal das Schweissgerät bemüht.
Als ich am Freitag Morgen meinen Zeltplatz an der Rennstrecke verlasse, werden immer noch einige Fahrer erwartet. Die Zuschauer und die Stimmung sind allerdings gewichen. Wieder etwas mehr Stimmung kommt am Samstag in Santa Rosalía auf, wo ich eine Blaskapelle in Aktion antreffe. Die jungen Talente dürfen mangels anderer Gelegenheit den Dorfplatz als Uebungslokal benutzen.
Weiter geht es an der Ostküste der Halbinsel. Die einsame Landschaft wird unterbrochen von wunderschönen Badestränden. In unregelmässigen Abständen erscheinen Funkantennen auf den höchsten Punkten entlang der Strasse.
Polizeischutz und Kirchenasyl
Am 17. November fahre ich wieder landeinwärts und erreiche Ciudad Constitutión. Im Weiler Morelos, etwas weiter südlich, weist mir der diensthabende Polizist mir Rücksprache mit dem diensthabenden Kommandanten einen Platz direkt vor dem Polizeiposten zu, der aus einem Büro, einer Toilette und Arrestzellen besteht.
Die Nachricht meiner Ankunft verbreitet sich schnell, und schon bald beschäftigen sich einige Kinder und Jugendliche mit mir. Später am Abend lerne ich im Büro den Polizisten näher kennen, am folgenden Morgen dann noch seinen Kollegen und den Kommandanten.
Noch am Abend des 18. erhalte ich Asyl, diesmal im Kakteen umzäumten Garten eines Pfarrhauses ohne Wasser- und Stromanschluss, wie das ganze Dorf, das schon seit Jahren keinen Tropfen Regen mehr gesehen hat. Ich treffe dort ein Paar aus Oregon wieder, dessen Weg ich schon vorher zweimal gekreuzt habe. Das mobile Freiluftkino sorgt bis weit in den Abend hinein für akustische Unterhaltung. Am Morgen ist dann zu bestaunen, wie die Schülerinnen und Schüler ihre militärischen Marschformationen für die Parade am 20. November (88. Jahrestag der Revolution) üben.
Friedliche Tage mit vielen Touristen
Die Stadt La Paz (der Friede) und ihre Bucht sind schon von weitem zu sehen. Mein Fahrrad braucht hier einige Tage Pause. Auf dem Zeltplatz (oder genauer im Wohnwagenpark) bin ich von Englischsprachigen umzingelt. Die Kanadier sind überproportional vertreten. Meine Nachbaren aus Colorado versorgen mich jeden Morgen mitfrischem Kaffee.
Die Stadt ist recht übersichtlich. Die Auswahl in den Supermärkten braucht den Vergleich mit US-Standards nicht zu scheuen. Nebst der Parade am 20. November gibt es das kleine aber feine Antropologische Museum zu sehen, welches über Geschichte und Archäologie der Halbinsel orientiert. Mindestens ebenso interessant wie die Exponate ist meine Unterhaltung mit einem der Aufseher.
In der Nacht vom 24. zum 25. November bringt mich die Fähre nach Mazatlán. Ein weiteres Mal marschiere ich erwartungsvoll in ein Postamt, und ein weiteres Mal werde ich enttäuscht, ebenso wie beim nächsten und letzten Versuch zwei Tage später. Die auf einer Halbinsel gelegenen Stadt hat einen langen Strand, eine hügelige Landschaft und vor allem viele Touristen zu bieten. Mit ihnen steigen auch die Preise. Trotzdem finde ich mit etwas Glück, ganz in der Nähe des mondänen Disco-Tempels im Norden der Stadt einen günstigen und guten Verpflegungsstand, der überwiegend von Einheimischen besucht wird.
Handlesen und Faustrecht auf der Strasse
Am Freitag, 27. November fahre ich weiter gegen Süden. An diesem Tag kommt ein Schlauch meines Wasserentkeimungsgerätes zu seinem ersten Einsatz. Am Strassenrand stehen zwei Wagen. Dem einen ist das Benzin ausgegangen. Eine der Frauen, die zu den Wagen gehören, will unbedingt in meiner Hand lesen. Ich erfahre, dass ich sehr lange leben werde, und dass sich irgendwo eine Frau nach mir verzehrt. (Falls die Betreffende dies liest, hier meine E-Mail-Adresse: albano.bernasconi@iname.com ).
An diesem Abend wähle ich einen etwas ungewöhnlichen Ort zum Uebernachten, doch der Friedhof wird seiner Bezeichnung gerecht, ich verbringe eine friedliche Nacht. Am Morgen lerne ich sogar den Totengräber kennen.
Die Strasse zwischen Mazatlán und Tepic ist für Radfahrer ein echte Herausforderung. Dass sie keine Seitenstreifen hat, ist noch nicht besonders schlimm. Leider ist aber zudem der Verkehr ziemlich dicht. Besonders spannend wird es jeweils, wenn zwei Autobusse sich genau auf der gleichen Stelle kreuzen, wie mich. Seitwärts bleibt da nicht mehr viel Platz. Nur die wenigsten Fahrzeuge halten es für nötig, ihre Geschwindigkeit zu drosseln und rauschen an mir vorbei, während ich versuche, die Nerven zu behalten.
Wie ein Mahnmal für die Gefahren im Verkehr erscheint dann am Samstag ein Zugfahrzeug mit Aufleger, das samt einer Wagenladung Melonen im Graben neben der Strasse liegt. Als ich am Ort des Geschehens ankomme, sind schon viele Leute damit beschäftigt, die noch brauchbaren Teile des Melonenberges einzusammeln.
Ehekrach im Paradies
Am Montag, am Letzten des Monats, werde ich Zeuge eines handfesten Ehekrachs. Eine Frau kommt ausgerechnet dann im Bus an, als ihr Mann mit seiner Geliebten an der Haltestelle wartet. Die Frau bringt ihren Unmut lautstark und mit typisch mexikanischem Vocabular zum Ausdruck. Für Gesprächsstoff im Dorf ist gesorgt.
Schon seit Mazatlán ist das Klima nicht nur warm sondern auch feucht, woraus sich eine üppige Vegetation ergibt. An diesem Montag nun, an dem ich die Hauptstrasse verlasse, um weiterhin der Küste entlang zu fahren, werden die Wälder noch dichter, noch grüner. Kokospalmen und Bananenplantagen erscheinen auf der einen Strassenseite, endlose Sandstrände und ein postkartenverdächtiger Sonnenuntergang auf der anderen. Ich komme aus dem Staunen kaum heraus und endsprechend kaum vorwärts.
© 19.1.1999 albano & team