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albano, Raron (Schweiz) im Mai 2004
«Tagwacht!», schreit es neben meinem linken Ohr. Grelles Licht geht an. Ich drehe mich gegen die Matratze und ziehe die Decke schützend vor mein Gesicht. Leises Atmen aus allen Richtungen. Ab und zu ein Durchatmen. Schlafsäcke rascheln. Jemand öffnet einen Reissverschluss. Langsam erwacht mein Bewusstsein, und es dämmert mir, wo ich bin: In der Schweizer Armee XXI (sprich: einundzwanzig).
Wir schreiben das Jahr 2004. Vor einigen Monaten erhielt ich Post vom Verteidigungsministerium. Ich musste den Behörden mein Dienstbüchlein zustellen, jenes amtliche Dokument, in welchem alle den einzelnen Wehrpflichtigen betreffenden Feststellungen und Verfügungen akribisch nachgeführt werden. Wochen später erhalte ich mein Büchlein zurück; dabei ein freundlicher Begleitbrief betreffend meine «Weiterverwendung in der Armee XXI». Als (männlicher) Schweizer Bürger bin ich verpflichtet, meinen persönlichen Beitrag zur Landesverteidigung zu leisten. Die Armee XXI ist nun bereits die dritte Schweizer Armee, welcher ich meine ganze Kreativität und Arbeitskraft an bestimmten Tagen des Jahres unentgeltlich zur Verfügung stellen soll.
Meine militärische Karriere begann vor gut zehn Jahren mit einer 17-wöchigen Rekrutenschule in der sogenannten Armee 61. Meine Aufgabe war es, auf Anweisung von Stabsoffizieren Mitteilungen zwischen dem Armeekommando und den grossen Verbänden zu übermitteln. Einige der Geräte, die wir gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zur Erfüllung dieses Auftrags benützten, stammten aus den Sechzigerjahren, ebenso wie das damals bereits etwas in die Jahre gekommene Armeekonzept. Nicht in jedem der darauf folgenden Jahre rief mich mein Vaterland zu den Waffen, und auch wenn es mich rief, hatte ich öfter einen guten Grund, die Einladung auszuschlagen, denn bei gedrängtem Studienprogramm oder Auslandurlaub kann man von der Militärverwaltung gegen eine Entschädigung die Erlaubnis erhalten, seine Pflichterfüllung auf später zu verschieben.
Obwohl ich in diesen Jahren also weniger als üblich für dieVerteidigungsbereitschaft meiner Heimat tat, wurde ich Mitte der 90er Jahre von Kopf bis Fuss neu eingekleidet. Im Zuge der Armeereform 95 war unter anderem die persönliche Ausrüstung des Wehrmannes gründlich modernisiert worden. Die Tarnanzüge der ersten Generation machten Gewändern mit neuen, dezenten Naturfarben Platz. Die Gasmaske wurde neu an einer sogenannten Grundtrageinheit befestigt, eine Weste, an welcher ebenso die Feldflasche, das Schuhputzzeug und andere nützliche Dinge Platz fanden und mit welcher sogar der völlig neu konzipierte Rucksack getragen werden kann. Auch ein neues Sturmgewehr gehörte zu diesem Modernisierungsprogramm. Ein solches durfte ich aber nie zu meiner persönlichen Ausrüstung zählen, denn ich hatte bereits in meinem ersten Wiederholungskurs anstelle des alten Sturmgewehrs eine Pistole erhalten, da der damalige Standort meiner Einheit für den Einsatz von Gewehren und grösseren Waffen denkbar ungeeignet war.
Nun diente ich also in der Armee 95, und auch das eher sporadisch, bis ich eben vom Ministerium dieses folgenschwere Schreiben erhielt, welches das Ende meiner Verwendung in der Armee 95 ankündigte und gleichzeitig das Schicksal derselben besiegelte. Obwohl die meisten meiner Altersgenossen dem Vernehmen nach nicht mehr in dieser neuen Armee XXI weiterverwendet werden sollten, da sie in den Vorgängerarmeen bereits genug Diensttage geleistet hatten, war ich natürlich gespannt, was ich denn nun für eine neue Aufgabe erhalten würde. Nach meiner Rekrutenschule hatte ich ganz gemäss meinem ursprünglichen Auftrag Infrastruktur und Kommunikation für den Generalstab betrieben, allerdings standen dort etwas modernere Geräte zur Verfügung. Daneben standen aber auch immer wieder die diversen militärischen Grundfertigkeiten auf dem Programm, wie zum Beispiel Schiessen, Selbst- und Kameradenhilfe, Schutz vor atomaren und biologischen Waffen, aber auch unverzichtbare häusliche Verrichtungen wie Reinigung und Abwasch.
Ich staunte nicht schlecht, als ich meinem zurückgekehrten Dienstbüchlein entnahm, dass ich nun als Übermittlungssoldat in einer Panzerminenwerferkompanie eingesetzt werden würde. Offenbar wollte man mich wieder felddiensttauglich machen. Ich fragte mich, ob man sich in der Administration wohl bewusst war, dass ich noch kaum je einen Panzer aus der Nähe betrachtet hatte, geschweige denn einen Minenwerfer. Andererseits schaute ich meiner bevorstehenden Umschulung erwartungsvoll entgegen.
Inzwischen haben sich einige meiner Dienstkollegen schon von ihrer Matratze gewälzt. Würden nicht ein paar von ihnen bereits in ihren Kampfanzug schlüpfen, könnte man sich glatt in einem Ferien- oder vielleicht Pfadfinderlager wähnen. Unsere Kompanie-Unterkunft besteht aus etwa fünfzehn Holzhütten, welche einen recht neuen Eindruck hinterlassen. Davon dienen fünf als Massenlager für den Grossteil des Truppenkörpers.
Eine solche Hütte besteht aus einem Vorraum mit Tischen, Stühlen und einem stilechten Holzofen sowie zwei Schlafkammern mit zweistöckiger Liegefläche, wobei die beiden oberen Ebenen miteinander verbunden sind. In diesen Kammern hat es so sechs mal vier, also insgesamt vierundzwanzig Liegeplätze. Der Vergleich mit einer Sardinenbüchse ist hier nicht weit hergeholt. In der Unterkunft eines Ferienlagers kann es zwar auch eng werden, aber man hätte immerhin bedeutend weniger und eindeutig leichteres Gepäck dabei.
Mein Platz ist in der linken Kammer auf der oberen Etage an zweiter Stelle. Von dort aus sehe ich nun, wie sich unsere Männer durch den Gang aneinander vorbei zwängen. Andere versuchen gerade, frische Wäsche aus ihrem Effektensack hervorzukramen. Im Vorraum werden unterdessen bereits die ersten Kampfstiefel geschnürt. Es ist erst gerade kurz vor sechs Uhr.
Heute wurden wir um 5.45 Uhr geweckt, denn gestern morgen hatte der Feldweibel gefunden, dass wir unsere Zimmer nach dem Frühstück nicht sehr ordentlich hinterlassen hatten. Was genau nicht stimmte, erfuhren wir nicht, dafür erhalten wir heute morgen eine Viertelstunde mehr Zeit, um das Richtige zu tun - mangelnde Information und Anweisung an das Kollektiv zugleich, eine Kombination zweier wichtiger Disziplinarmassnahmen aus dem militärischen Standardrepertoire.
Ich finde trotzdem erst gegen Viertel nach sechs eine Lücke im Gemenge, um mich von meinem Hochsitz hinunterzuschwingen. Die Übung erfordert einiges an Geschick und Koordination. Zum Glück bin ich dank der Ausbildung in Geräteturnen, die ich früher an der Realschule genossen habe, gut auf solche Situationen vorbereitet und komme heil hinunter. Kurze Zeit später marschiere ich im grünen Gewand vor der Kantinenbaracke auf. Bin ich trotzdem noch zu früh? Die Schlange vor der Essensausgabe reicht jedenfalls immer noch bis auf den Vorplatz.
Immerhin geht es heute schneller vorwärts als gestern morgen. Unser Kommandant hat offenbar die Empfehlung eines Soldaten an den Küchenchef weitergeleitet. Unser Kollege meldete sich am gestrigen Antrittsverlesen ungefragt aus den hinteren Reihen, nachdem unser Chef die bereits erwähnten, nicht näher spezifizierten Mängel bei der Zimmerordnung gerügt hatte. Der mutige Soldat regte an, die Essensausgabe könnte durch eine bessere Anordnung der Speisen und Getränke erheblich beschleunigt werden. Leider sprach der Kollege unseren Hauptmann nicht mit seinem Grad an, was dieser umgehend und scharf korrigierte. Er wehrte sozusagen den Anfängen der Disziplinlosigkeit. Ob er sich beim Angehörigen der Armee auch fürs Mitdenken bedankt hat, ist mir nicht bekannt, seinen Hinweis aber hat er scheinbar beherzigt.
Als ich in den Speisesaal trete, sehe ich, warum es heute schneller vorwärts geht: Das geschnittene Brot in einer riesigen Aluminium-Wanne, die Konfitüre in gigantischen Gläsern, der grosse Müeslikübel, die verschiedenen Kessel mit zwei Sorten Joghurt, warmer Milch, Kaffee und Kakaopulver, die Unmengen von Butterportiönchen und die diversen Packungen Milch sind heute über zwei Tische verteilt anstatt nur über einen. So geht man wenigstens langsam vorwärts, während man sich bedient, und muss so weniger lange warten.
Und ich habe sogar noch mehr Glück. Weil ich heute recht früh dran bin, reicht es sogar noch für ein Schälchen Orangensaft. Jene, die jetzt aber noch in der Unterkunft herumhängen, werden sich den morgendlichen Vitaminschub aus dem Beutel definitiv abschminken können. Ich esse gemütlich. Danach bleibt mir noch genügend Zeit, um in mein Schlafzimmer zurück zu kehren und mir meine Grundtrageinheit umzuschnallen.
Um Punkt sieben Uhr muss der Feldweibel dem Einheitskommandanten die ganze Kompanie bereit melden zum Arbeitsbeginn. Damit die Vorgesetzten den Überblick über die ihnen unterstellte Horde von gut hundert Individuen behalten können, muss grundsätzlichen jeder Diensthabende, egal welchen Grades, am sogenannten Antrittsverlesen erscheinen. Damit dieses pünktlich durchgeführt werden kann, haben die Männer fünf Minuten vorher zu erscheinen. Man stellt sich zugsweise in Viererkolonnen auf. In unserem Fall ergibt das drei Blöcke mit Zug eins, Zug zwei und dem Kommandozug. Nach ein paar Tagen weiss jeder, welcher Platz ihm am besten gefällt, so dass sich die Kolonnen fast automatisch bilden. Nur im Kommandozug, zu dem auch ich gehöre, will sich noch keine rechte Ordnung einstellen. Langsam rafft sich aber auch unser Trupp zu einigermassen anständigen Reihen auf.
Da plötzlich: «Kompanie richten!», obwohl wir schon recht sauber dastehen. «Kompanie ruhn!» Der Feldweibel lässt seine Adleraugen durch die Reihen schweifen. Mit seiner Statur überragt er die meisten Anwesenden um einen bis eineinhalb Köpfe und behält so den Überblick. Fehlende Mützen, nicht fachgerecht festgezurrte Hosenbeine, offene Reissverschlusstaschen und unrasierte Gesichter sind ihm ein Dorn im Auge. Auch der Kommandant selbst sieht seine Männer gerne in anständigem Zustand. Er prüft die Uniformen und Wangen mit kritischem Augenmass und greift korrigierend ein, wenn etwas nicht stimmt. Heute gibt es nicht viel zu bemängeln, denn schliesslich erklärt man uns schon sein fast zwei Wochen, worauf es genau ankommt.
«Kompanie Achtung!» Über hundert Paar Schuhe klatschen fast synchron aneinander. Man hört den Bach rauschen, welcher unser Lager flankiert. Dann gibt der Feldweibel unserem Chef den Bestand durch. Ganz alle müssen doch nicht zum Antrittsverlesen erscheinen. Es gibt doch noch wichtigere Dinge. Wer gerade das Camp bewacht und wer in der Küche beschäftigt ist, muss seine lebenswichtigen Aufträge weitererfüllen. Auch wer im Urlaub weilt, kann natürlich nicht gleichzeitig hier sein. «Kompanie ruhn!» Der Kommandant wünscht uns einen guten Morgen. Wieder ziemlich gleichzeitig schallen unzählige «Guten Morgen!» aus der Truppe über den Platz. Rituale verbinden.
Nun kommt aber erst der eigentlich wichtige Teil der Veranstaltung: die Information an die Untergebenen, ab und zu ein Lob oder eine Rüge. Was steht heute auf dem Programm? Was gibt es sonst zu beachten? Details sind freilich hier nicht zu erfahren, denn für diese ist das mittlere und untere Kader zuständig. Der Kommandant beendet die Versammlung denn auch mit dem Befehl an die Zugführer, ihre Züge zu übernehmen. Bei Zug eins und zwei passiert das wiederum mit klaren Kommandos. Im Kommandozug weiss hingegen auch so jeder, was er zu tun hat, und geht auf seinen Posten.
Jeder? Nein, fast jeder. Wie schon gestern geschehen, stehen nun einige Männer zusammen mit mir völlig führungslos da. Wir kennen die Situation schon bestens. Gestern geschah genau das Gleiche. Zwar gibt es immer einen sogenannten Tagesbefehl am Anschlagbrett, in welchem der Tagesablauf für die ganze Kompanie mit genausten Zeitangaben geregelt ist, doch für unseren Fall fanden wir gestern schon, wie auch heute keine verlässlichen Angaben.
Der Kern unseres Trupps besteht aus fünf Mann mit den Spezialfunktionen Vermesser und Übermittler. Wir wären normalerweise einem oder mehreren Schiesskommandanten unterstellt. Soviel haben wir im ersten Teil unseres Kurses bereits herausgefunden. Wir wären eigentlich sogar mit einem Fahrzeug ausgerüstet, dass vor High-Tech nur so strotzt. Unsere Aufgabe wäre es, die Ziele genaustens zu vermessen, welche unsere Jungs an den Minenwerfern unter Beschuss nehmen. Aber das ist leider für uns alles graue Theorie, denn unser Stosstrupp, obwohl aus hochspezialisierten Leuten bestehend, ist bisher weder einem Fahrzeug mit Fahrer zugeteilt, noch einem Schiesskommandanten unterstellt. Wie können wir unseren Auftrag unter diesen miserablen Bedingungen nur erfüllen?
Schon letzte Woche litten wir unter dieser beträchtlichen Ressourcenfehlallokation. Die ganze Woche über waren wir in unserer Fünfergruppe mehr oder weniger auf uns allein gestellt. Zwar wurde einer unter uns als Gruppenführer eingesetzt, doch auch er konnte uns kein Fahrzeug herbeizaubern. Irgendwo keimte bei uns immerhin noch die leise Hoffnung, wir würden in der zweiten Ausbildungswoche vielleicht doch noch korrekt ausgerüstet, denn wir waren für die ersten paar Tage weit weg von unserer Einheit auf einem Waffenplatz stationiert, und gemäss unserem Verbindungsmann zur Kompanie konnten allfällige Führungsprobleme durchaus durch diese Distanz begründet sein. Ein untrügliches Indiz für diese Problematik war denn tatsächlich auch, dass uns in dieser ganzen Woche kaum je ein für uns gültiger Tagesbefehl erreichte.
Trotz all diesen Widrigkeiten machte unser Gruppenchef für uns das Beste aus unserer Situation. Er war, zusammen mit zwei weiteren Kollegen, schon in der Woche vorher eingerückt, zur Vorbereitung der Dienstleistung, wie es jeweils heisst, und kannte unser Dilemma bestens. Er wusste aber auch, dass eine andere Kompanie auf Platz mit acht voll besetzten Fahrzeugen unseres Typs glänzen konnte, und er wusste zudem, wann und wo diese Fahrzeuge im Einsatz stehen würden. Am ersten Tag führte er uns sogar in den Theoriesaal, wo wir - computerunterstützt - unser Fahrzeug kennen lernten. Für mich war das recht interessant, für drei von uns aber todlangweilig, hatten sie sich doch bereits in der Woche zuvor mindestens drei Mal durch das ganze Ausbildungsprogramm hindurchgeklickt.
Nach diesem eigentlich ganz vielversprechenden Anfang wurde auch mir unser Ausrüstungsnotstand schon bald bewusst. Regelmässig meldeten wir fünf uns nämlich bei unseren voll ausgerüsteten Kollegen und fragten nach, welche Plätze in ihren Fahrzeugen denn heute gerade nicht besetzt seien. Zum Glück gab es auch in diesem Detachement Urlaubsabwesende, so dass wir wenigstens ab und zu die Gelegenheit hatten, als Beifahrer, Vermesser oder sogar Ersatz-Schiesskommandant mitzufahren. So lernten wir dank hartnäckigem Nachfragen trotz unserer misslichen Lage als Kompanie-Stiefkinder doch noch nach und nach das Innenleben unseres technisch hochgerüsteten Mobils kennen.
Am Montag der zweiten Kurswoche wurde jedoch unsere restliche Hoffnung auf bessere Zeiten brutal und nachhaltig zerschlagen, als wir uns eben nach dem Antrittsverlesen erneut ohne Führung und ohne klaren Auftrag wiederfanden, obwohl wir am vergangenen Freitag zum Kern unserer Kompanie verlegt worden waren. Auf dem Tagesbefehl waren wir zwar andeutungsweise in einer Fussnote erwähnt mit Standortangabe und verantwortlicher Person, doch wie wir auf das mehrere Kilometer entfernte Gelände gelangen sollten, war uns schleierhaft.
In der Absicht, unsere heutige Mission zu erfüllen, schaute unser Organisator für eine Transportmöglichkeit. Auf dem fraglichen Areal angelangt, sahen wir uns wieder zum gleichen Vorgehen wie bis anhin gezwungen: Durchfragen, wo wir uns am nützlichsten machen könnten. Doch einmal mehr hatte man hier nicht wirklich auf uns gewartet. Zwar ergatterte ich einen Platz als Funker und Beifahrer in einem der Beobachtungsfahrzeuge, doch wir blieben den ganzen Tag praktisch an Ort und Stelle. Die Geräte wurden ein- und ausgeschaltet. Man nahm Verbindung per Sprech- und Datenfunk auf. Erst gegen Abend klappte das überall reibungslos. Fazit: Übung erfüllt.
Der eigentliche Höhepunkt des Tages aber war der Besuch eines ranghohen Offiziers, eines Brigadiers, wenn ich mich recht erinnere. Der Mann warf sogar einen Blick in unser Fahrzeug. Ich grüsste höflich, militärisch, versteht sich, und unser Vermesser erklärte ihm wortgewaltig, was wir denn tun könnten, sobald die Verbindung überall steht. Ich glaube der Ranghohe war mit dem Ausbildungsstand meines Kollegen zufrieden.
Andere Leute unseres ungeliebten Trupps hatten weniger Glück als ich. Sie durften nicht in einem der Fahrzeuge nichts Sinnvolles tun, so wie ich, sondern hatten gar keinen Platz in einem Vehikel ergattert. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, irgendwo etwas Brauchbares anzupacken, optierten sie für ein zeitvertreibendes Kartenspiel, ein Spiel, dass noch öfters in diesen Wochen seine sinnstiftende Wirkung entfalten sollte.
Der Tiefpunkt des gestrigen Tages allerdings war eine weitere Organisationspanne, diesmal im äusserst heiklen Bereich der Verpflegung. Mangels entsprechendem Befehl hatten wir unser Kochgeschirr und Essbesteck heute morgen nicht eingepackt. Meine Kollegen organisierten sich zur Essenszeit wieder einen Transport zurück in unser Lager. Den verpasste ich allerdings. So kam es, dass ich ohne Geschirr vor der Kochkiste im Feld stand. Anderen Soldaten unserer Kompanie ging es jedoch genau gleich. Zum Glück wusste der anwesende Küchenchef zu improvisieren. Er hatte noch eine Kiste mit Offiziersbesteck in seinem Wagen, das er den schlecht ausgerüsteten Männern auslieh. Das Abendessen war übrigens ähnlich verwirrend geregelt. Wenigstens fanden alle versprengten Leute am Schluss irgendwie wieder zu ihrem Liegeplatz zurück.
Das war gestern, aber heute wird alles anders. Heute stehen wir nach der morgendlichen Versammlung nicht lange führungslos da. «Vermesser, Übermittler des Kommandozugs daher!» Ein Oberleutnant nimmt sich unserer an. Offensichtlich hat man beim Kader unsere Führungslosigkeit endlich erkannt, nachdem einige von uns gestern Abend den Kommandanten in einer Kurzaudienz eindringlich um bessere organisatorische Rahmenbedingungen für unseren Trupp gebeten haben.
Und diese haben sich nun wirklich schlagartig gebessert. Wir haben jetzt sogar ein Geländefahrzeug, mit welchem wir auf das gleiche Übungsfeld wie gestern verschieben. Wir sind schon ganz gespannt, was wir heute zu tun haben werden. Und wir müssen nicht einmal lange auf unseren neuen Boss warten. Schon bald fährt er mit einem ausgewachsenen und vollständig ausgerüsteten Vermessungsfahrzeug vor. Leider ist seine Besatzung bereits vollzählig, und er gehört eigentlich nicht zu unserer Kompanie, doch er hat den schwierigen Auftrag erhalten, sich unser anzunehmen, und wir wissen endlich, wer für uns das Sagen hat.
Es braucht viel Fingerspitzengefühl, um eine so desillusionierte kleinen Horde wie uns wieder aus ihrer Lethargie aufzurütteln. Unser Chef macht das aber gar nicht mal so schlecht. Wir erhalten topographische Karten von unserer Standortregion mit dem Auftrag, verschiedene nur für unsere Übung von nächster Woche relevante Räume einzuzeichnen. Mir gefällt die Sache jedenfalls, da ich sehr gerne mit Karten arbeite. Was mir hingegen nicht so recht Freude machen will, ist die Tatsache, dass die Kollegen an den Rohren diese sogenannten Feuerräume später aufgrund unserer Vorarbeit mit ihren Granaten beglücken sollen, dies zwar im vorliegenden Fall nur vorstellungshalber, aber trotzdem; immerhin sprechen wir hier von besiedelten Gebieten.
Nach vollbrachter Zeichenarbeit, welche wir wegen Überbelegung unseres Arbeitspostens in drei Gruppen, also auch in dreifacher Ausführung erledigen, begeben wir uns endlich mit unseren beiden Fahrzeugen auf Erkundungstour. Wir befinden uns im deutschsprachigen Teil des Kantons Wallis, mitten in den Alpen, dessen Grundgerüst ein langgezogenes, breites Tal mit seinen Seitentälern bildet. Unsere Feuerräume sind im Talgrund und in den Seitenarmen angelegt. Nun geht es hauptsächlich darum, geeignete Beobachtungsstandorte in den Bergflanken zu finden.
Aufgrund der Karte haben wir beschlossen, wo wir zuerst hinfahren. Wir folgen nun zu sechst in unserem Jeep dem Beobachtungsfahrzeug. Leider ist die angepeilte Kapelle mit der schweren Maschine nicht erreichbar. Stattdessen fallen wir in einen Steinbruch ein. Plötzlich sind wir auf den Rücksitzen unseres Fahrzeuges in eine dichte Staubwolke eingehüllt. Erst jetzt wird uns bewusst, dass wir die Rückwand des Verdecks besser vorher zugerollt hätten. Mit Staub in den Lungen und hustend steigen wir auf einem erhöhten Punkt aus. Vom anderen Fahrzeug aus wird beobachtet und vermessen.
Eigentlich sind wir jetzt wieder gleich weit wie schon die ganze letzte Woche. Um unsere Arbeit richtig zu machen, bräuchten wir mehr dieser hochgerüsteten fahrbaren Untersätze samt ausgebildeten Fahrern. Natürlich ist uns unterdessen sonnenklar, dass dies, zumindest für dieses Jahr, ein frommer Wunsch bleiben wird. Trotzdem gibt es noch Verbesserungspotential, welches aber unsere neue Führungsperson schon bald erkennt, und dies nach nur indirekten Andeutungen von unserer Seite. Am Nachmittag werden wir mit unserem Fahrzeug ein eigenes Detachement mit einem eigenen Auftrag bilden. Zwar können wir mangels brauchbaren Geräten keine Ziele vermessen, aber wenigstens Standorte auskundschaften.
Nach einem doch recht ausgefüllten Morgen verspricht das Mittagessen heute ein angenehmer Meilenstein im Tagesablauf zu werden, denn ich habe nun für alle Fälle Geschirr und Besteck dabei. Ich kam zwar nach dem gestrigen Vorfall selbst schon auf diese Idee. Zur Sicherheit aber hat unser Kommandant heute morgen dasselbe der ganzen Kompanie noch befohlen, da es gestern Friktionen bei der Verpflegung gegeben habe. Die Kost selbst ist erste Klasse, auch wenn sie am gleichen Ort wie gestern serviert wird: Teigwaren mit gesottenem Rindfleisch.
Die Küche, die wir in diesen Tagen geniessen, kann man überhaupt fast nur loben. Am Freitag wird die Truppe sogar mit Tiramisu zum Nachtisch verwöhnt werden. Und das als Hauptgang dazu vorgesehene Bami Goreng könnte eine Nomination unserer Truppenküche für den Gault Millau Schweiz rechtfertigen, wie sich herausstellen wird.
Am Nachmittag rücken wir dann mit dem Geländefahrzeug aus, um unseren neusten Auftrag zu erfüllen. Nach kurzer Fahrt in der Ebene stechen wir in den Hang. Kurve für Kurve schraubt sich unser Wagen den Berg hinauf. Nach einigen Kilometern Fahrt eröffnet sich eine grandiose Aussicht auf Feuerraum A. Wir halten an und machen unsere Notizen. Und weiter geht's. Zwar sind wir personell immer noch etwas überbelegt, denn es kann nur einer gleichzeitig den Weg weisen und ein anderer schreiben. Die verbleibenden Männer müssen sich jeweils mit (militärischem) Beobachten begnügen. Natürlich tauschen wir die Rollen auch aus, um den Arbeitsanfall möglichst gerecht unter den Anwesenden zu verteilen.
Wir fahren auf der gleichen Bergflanke weiter Richtung Osten. Ein Platz am Ausgang des nächsten Dorfes erscheint uns zwar nicht gerade ideal, aber doch brauchbar, um einen Teil des Feuerraums D einzusehen. Auf unser Geheiss hin stellt der Chauffeur unser Gefährt auf einem Feldweg neben der Hauptstrasse ab. Wenige Meter neben uns sitzt ein älteres Paar auf einer Parkbank und geniesst die Aussicht. Die beiden unterhalten sich; wir entziffern einige Wortfetzen auf Niederländisch.
Uns wird bewusst, dass wir in diesen Augenblicken eine grosse Verantwortung für den Ruf der Armee XXI im Ausland tragen. Wir reissen uns zusammen, grüssen freundlich und machen zielgerichtet unsere Beobachtungen. Schon bald fahren wir weiter, nein, wollen wir weiterfahren. Der Zündschlüssel dreht sich im Schloss. Ein kurzes, müdes, abgewürgtes Surren des Anlassers. Hat uns nicht unser Fahrer vorher aufgeklärt, dass die Batterie unseres Fahrzeugs ungewöhnlich lange braucht, um sich von der Startbelastung zu erholen? Leider hatte sie sich eben noch nicht erholt.
Kein Problem, denken wir, denn wir sind ja genug Leute zum Anschieben. Die ersten von uns stemmen sich schon vorne gegen die Kühlerhaube, um die über zwei Tonnen rückwärts auf die Hauptstrasse zurück zu schieben. Von dort aus sollte Anrollen möglich sein. Leider Fehlanzeige: Unser Automatengetriebe lässt sich nicht mit Muskelkraft herumbugsieren und schon gar nicht am Abhang anrollen. Mangels militärischen Kommunikationsmitteln greifen wir, wie schon so oft, zu den privaten Mobiltelefonen, um die Pannenhilfe anzufordern. Bereits jetzt ist klar, dass die Armee XXI eine ihrer ersten Bewährungsproben gegenüber dem Ausland nicht bestanden hat. Um unsere Enttäuschung darüber zu verarbeiten und um die Wartezeit zu überbrücken, kehren die meisten von uns in der nahen Wirtschaft zu etwas Flüssigem ein.
Diese Panne unter den Augen von internationalen Beobachtern wirft uns fast eine Stunde in unserem Nachmittagsprogramm zurück. Als das befreundete militärische Fahrzeug endlich bei uns eintrifft, ist aber die Entpannung nur noch eine Frage von Minuten. Überbrückungskabel angehängt, und endlich geht's weiter. Unser Team zeigt sich in alter Frische. Mit unseren recht verschiedenen Charakteren ergänzen wir uns gar nicht schlecht. Unter uns findet man so nützliche Stereotypen wie den Hilfsbereiten, den Denker, den Organisator und den Unterhalter, und zwar teilweise mehrfach, vereint in einer Person.
Wir haben unsere Arbeit auf dieser Seite des Tals für heute abgeschlossen - wenn auch mit beträchtlicher Verspätung. Wir sind nun auf dem Weg zurück ins Tal. In solchen Situationen mit geringer Arbeitslast sind jeweils die Unterhalter in uns gefragt. Einige Sprüche zum aufwärmen, wenn sich nichts Neues abzeichnet, der Rückgriff auf die Running Gags, die fast in jeder Situation passen, noch etwas Klatsch und Tratsch und schliesslich die bereits erwähnten Karten- und Würfelspiele. Das ist wohl das vielgelobte gesellige Soldatenleben. Und ab morgen wird uns in der Unterkunft und auf unseren Ausfahrten sogar ein Radio begleiten.
Wir sind schon wieder unten im Tal auf der Hauptstrasse. Vor einem Verkehrskreisel will unser Fahrer den nötigen Halt einlegen. Der Wagen reisst eine Vollbremsung. Menschen und Ausrüstung auf den Hinterbänken werden komprimiert. Nun schleicht unser Fahrzeug vorsichtig durch den Kreisel und dahinter auf einen Parkplatz. Erst jetzt erfahren wir, dass die Bremse beim ersten Antippen zuerst nicht und dann ruckartig reagiert hat. Vielleicht sollten wir gar nicht daran danken, was hätte passieren können, wenn das vor einer scharfen Kurve in der Abfahrt der Fall gewesen wäre.
Zwar steht unser Wagen nun still, aber die Bremse greift überhaupt nicht mehr. Es versteht sich von selbst, dass wir so keinen Meter weiterfahren. Wieder fordern wir auf die bekannte Weise Unterstützung an. Die Leerzeit füllen wir diesmal mit Shopping im nahen Einkaufszentrum und mit einem Besuch bei einer bekannten Fast-Food-Kette. Heute hatten wir zwar endlich einen klaren Auftrag, doch wieder sind wir am mangelhaften Zustand unserer Ausrüstung gescheitert. Trotz neuer Führung und anderen Lichtblicken des heutigen Tages hat unsere Motivation neue, bisher unbekannte Tiefen erreicht.
Kurz nach fünf Uhr werden wir zurück zu unserer Unterkunft gebracht. Unser Kapitän bleibt bei seinem Schiff, welches kurze Zeit später abgeschleppt wird. Langsam erholen wir uns vom Schrecken mit dem defekten Bremssystem. Trotz angeschlagener Nerven wichsen wir pflichtbewusst unsere Kampfstiefel tiefschwarz ein, bevor diejenigen von uns, denen der Appetit noch nicht vergangen ist, sich in unserer Kantine verpflegen.
Dann, um Viertel nach sieben, ist es wieder einmal soweit. Die Kompanie trifft sich zum Stelldichein. Am Abend heisst die fast gleiche Veranstaltung Hauptverlesen, aber im Grunde geht es um genau das Gleiche wie am Morgen: Schäfchen zählen und - wenn der Feldweibel Lust dazu verspürt - Kontrolle der Zimmerordnung. Einer der beiden Hauptzüge unserer Kompanie ist plangemäss noch auf Arbeit und zeigt sich deshalb nicht am Appell. Unsere anderen Angehörigen der Armee XXI haben Ausgang. Deshalb gibt es heute einen wesentlichen Unterschied zum Antrittsverlesen: Man erscheint im militärischen Smoking, der sogenannten Ausgangsuniform.
Wird sonst die Einheit der Truppe über alles gestellt, haben die begrenzten Staatsfinanzen diese Maxime im Fall der Ausgangsuniform auf unschöne Weise torpediert. Ein typisch helvetischer Kompromiss: Ausgangsuniform ja, aber nur für die neuen Rekruten und andere handverlesene Auserwählte. Konsequenz: Ich und eine Handvoll weitere altgediente Wehrmänner müssen uns in der alten Ausgangsuniform in die Formation einreihen. Wir fühlen uns nicht wirklich integriert. Die neue Kleidung hat einen deutlich frischeren Touch. Hose, Krawatte und Oberteil sind aus edlerem Tuch gewirkt. Der einschnürende Ledergurt um den Bauch entfällt. Uns Alten bleiben diese Privilegien vergönnt.
Als wir alle schön in Reih und Glied dastehen, erschrecke ich gewaltig. Erst jetzt merke ich, dass alle anderen nur im Kurzarmhemd mit Krawatte dastehen. Nur ich habe den filzigen Oberteil mit Gurt angezogen. Beide Tragarten sind nach Reglement korrekt, aber ein Abweichler ist natürlich ein Schlag ins Gesicht der Einheitlichkeit der Truppe. Zu meinem Erstaunen erregt meine Kombination jedoch während des ganzen Hauptverlesens keinen Anstoss.
Wenn wir Ausgang haben, dürfen wir sogar Sport treiben. Ich mache von dieser Möglichkeit Gebrauch. Dazu werfe ich mich ins offizielle Tenue Sport: Turnschuhe, Turnhosen, T-Shirt; Farbe egal. Leider ist diese Kombination am Appell nicht erlaubt, sonst hätte ich mich natürlich nicht zwei Mal umgezogen. Normalerweise betreibe ich kaum Jogging, aber in dieser Situation kann etwas Sport entscheidend zur Aufrechterhaltung des mentalen Gleichgewichts beitragen. Ohne Stiefel und Kriegsgerät fühle ich mich fast über die Ebene schweben.
Ich versuche meine Gedanken abzulenken, aber sie kreisen trotzdem immer wieder um die gleiche Frage: Wie wird man uns hier wohl noch eineinhalb Wochen lang im Dienste der Nation beschäftigen? Auch wenn es eigentlich am sinnvollsten und ehrlichsten wäre, wenn man uns mangels Vorbereitung und richtiger Ausrüstung vorzeitig aus der Dienstleistung entlassen würde, weiss ich mit absoluter Sicherheit, dass dieses Postulat der Vernunft niemals Realität werden wird. In meiner militärischen Karriere habe ich schliesslich oft genug erfahren, dass eine Option vom System umso hartnäckiger gemieden wird, je vernünftiger sie dem Einzelnen erscheint. Möglicherweise hat das damit zu tun, dass im Krieg der einzelne Mensch gegenüber Ideologien und Prinzipien in den Hintergrund treten muss.
Ich weiss noch nicht genau, welche Erlebnisse diesen Erfahrungsschatz in den nächsten Tagen noch bereichern werden. Ich ahne zum Beispiel nur, dass mir am Donnerstag noch eine Theorielektion in Neuer Gefechtsschiesstechnik mit dem Sturmgewehr bevorsteht, obwohl ich seit über zehn Jahren keine solche Waffe mehr in den Händen gehalten habe. Dass wir dazu zwei Stunden lang die Gasmaske tragen werden, ist für militärische Massstäbe nichts Ungewöhnliches.
Am Freitag steht sogar scharfes Schiessen auf dem Programm. Anstatt dort mit meiner Pistole Sand ins eh schon arg belastete Getriebe des Systems zu streuen, werde ich mir wohl besser frühzeitig einen anderen Job suchen, etwa die immer wieder beliebte Charge eines Beifahrers.
Am Donnerstag werden wir fast den ganzen Nachmittag mit aufgeschraubten Gewehren und Pistolen auf die Waffeninspekteure des eidgenössischen Zeughauses warten. Am Freitag Nachmittag werden wir eine weite Strecke unter die Räder nehmen und eine erhebliche Höhendifferenz bewältigen (mit Pausen, damit der Motor unseres Beobachtungsfahrzeuges nicht überhitzt), um schliesslich festzustellen, dass das Zielgebiet, welches wir schematisch darstellen sollten, in tiefhängende und dichte Nebelschwaden eingehüllt ist.
Am frühen Samstag Morgen, als es alle kaum erwarten können, sich endlich ins Wochenende zu stürzen, werden wir unter Führung des stellvertretenden Kommandanten wider Erwarten Gelegenheit erhalten, unsere Kritik offen vorzutragen. Wir werden uns zwar des Eindrucks nicht erwehren können, dass dieser Zeitpunkt absichtlich gewählt wurde, um eine allfällige Diskussion möglichst auf Sparflamme zu halten. Zu meinem Erstaunen werden trotzdem viele meiner Mitstreiter die Gelegenheit ergreifen, ihrem Ärger über die allgemein mangelnde Organisation Luft zu machen.
Am Montag der dritten Woche werden wir fast den ganzen Tag bei brütender Hitze auf unseren Posten am Strassenrand verbringen, eingehüllt in leuchtende Verkehrswesten und Armstuplen und ausgerüstet mit verschlüsseltem Sprechfunk, um gerade fünf Mal einer Panzerkolonne der anderen Kompanie den Weg über die viel befahrene Hauptstrasse freizuhalten.
Das Spezialprogramm am Auffahrtsdonnerstag mit einem gemeinsamen Mittagessen der ganzen Kompanie an einem grandiosen Aussichtspunkt und der Besichtigung der NEAT-Baustelle am späten Nachmittag wie auch der Kompanieabend am Montag der dritten und letzten Woche sind zwar gut gemeint, werden mich aber nicht wirklich über den tagtäglichen Leerlauf hinwegtrösten können. Zwar wird dieser Soldatenabend vermutlich die bestorganisierte Veranstaltung der ganzen drei Wochen bleiben, nach meinem Dafürhalten gleichzeitig aber auch jener Anlass mit der höchsten Dichte an Peinlichkeiten.
Unser Kommandant wird einmal mehr sein fehlendes Organisationstalent unter Beweis stellen, indem er es nicht schafft, all seine Leute pünktlich um halb sechs Uhr im Tanzlokal im Wildwest-Stil zu versammeln. Stattdessen werden etwa zehn Mann, darunter auch wieder einmal ich, noch fast zwei Stunden später für die andere Kompanie den Verkehr regeln. Als wir schliesslich doch am Ort des Geschehens eintreffen, nicht einmal eine Geste der Versöhnung von unserem Lagerleiter. Stattdessen wird er einmal mehr versuchen, sich mit dem Hinweis auf das garstige organisatorische Umfeld aus der Verantwortung zu stehlen. Das Essen ist gut, aber wir werden inmitten eines rauchenden und saufenden Trümmerhaufens von Kriegern speisen müssen.
Und noch bevor wir den letzten Knochen abgenagt haben, wird ein reich befrachtetes Unterhaltungsprogramm beginnen. Dazu gehört ebenso, dass den Neulingen frisch ab Rekrutenschule einige zünftige Schlücke Bier aus einem Minenwerferrohr offeriert werden, welche für jeden von ihnen zu einer eigentlichen Bierdusche werden müssen, wie auch, dass das Kader mit Wasserpistolen und -gewehren ausgerüstet wird, um sich gegenseitig und auch das Publikum mit Wasser und härteren Getränken nass zu spritzen. Gegen das kindische Benehmen an sich wäre ja nichts einzuwenden, aber wird man als Führungsperson so nicht unglaubwürdig, wenn man nicht vorher seine Kompetenz genügend unter Beweis gestellt hat?
Aber Halt! Da fehlt doch noch etwas in einem gelungenen Abend für ausgewachsene Soldaten. Richtig: Da gehörten doch eigentlich noch ein paar Frauen hin. Ich hege schon die Erwartung, dass auch dieses Klischee respektiert wird, und werde nicht enttäuscht werden. Es ist kaum zu glauben, wie vier magere, junge Mädchen in einem schummrigen Saal voller Männer die Stimmung in ansonsten unbekannte Höhen treiben können. Sie werden dies mit den einfachsten Mitteln erreichen: kurze Höschen, knappe Oberteile und viel nackte oder zumindest nackt scheinende Haut, das Ganze auf einem Laufsteg von Tischen, unter den bewundernden Blicken der Kanoniere.
Danach sogar Tuchfühlung für die ganz Mutigen unter uns, welche gerne die Namen ihrer Favoritin auf dem eigenen Tarnanzug verewigt haben möchten. Unser Kommandant wird anschliessend nach Worten zu dieser Darbietung ringen müssen. Er wird seinem Haufen danken für die vornehme Zurückhaltung gegenüber den eingekauften Grazien, und ich werde einmal mehr erstaunt sein, wie simpel Menschen (Männer) in gewissen Situationen funktionieren.
All diese Einzelheiten kann ich, wie gesagt, im Moment nur ahnen, aber schon jetzt fühle ich deutlich, dass ich nach diesem Militärdienst noch weniger als nach allen vorhergehenden mit dem Eindruck nach Hause kehren werde, etwas Nützliches im Dienste meines Heimatlandes getan zu haben. Zur Erklärung dieses Phänomens finde ich zwei Ansätze: Entweder ist es den Doktrinstellen des Verteidigungsministeriums immer noch nicht gelungen, das Schweizer Armeemodell der sich rasant verändernden geopolitischen Situation anzupassen, und so dieser traditionellen Institution wieder jene Legitimation innerhalb unseres Staatswesens zu geben, die sie vor Jahrzehnten wohl einmal hatte, oder mit zunehmendem Alter bin ich immer weniger bereit, mich für ein System einzusetzen, an dessen Sinn und Wirksamkeit ich je länger je mehr zweifle.
Aus diesen Erkenntnissen leite ich einerseits ab, dass ich nicht mehr allzu lange in diesem Verein mitmachen sollte. Dies wird auch tatsächlich der Fall sein, wird man doch aus der Armee XXI altershalber mit vierunddreissig Jahren entlassen. Viel Zeit bleibt also dieser Armee sowieso nicht mehr, um meine Geduld auf die Probe zu stellen. Andererseits wächst in mir die Überzeugung, dass der Armee XXI schon in wenigen Jahren wieder eine neue Konzeption folgen wird. Mit hoher Wahrscheinlichkeit muss ich mich an deren Umsetzung zum Glück nicht mehr beteiligen.
Mit dieser beruhigenden Gewissheit kehre ich vom Sport in unsere Unterkunft zurück, nachdem ich mich einmal mehr telefonisch bei meiner Liebsten über die Behandlung beklagt habe, die mir hier zuteil wird. Einige meiner Leidensgenossen sind bereits hier, andere noch im Ausgang in irgend einer Wirtschaft in nahen Dorf oder in der nächsten Stadt. Mir bleibt noch etwas Zeit für die Abendtoilette und zum Zeitung lesen, bevor um Punkt 23 Uhr wieder einmal der Feldweibel durch die Schlafgemächer pilgert und nachschaut, ob alle brav heimgekehrt sind. Es flattern noch ein paar Sprüche durch die Zimmerluft, doch diese treten ihren Platz schon bald an leise oder weniger leise Atemgeräusche ab. Während ich ins Reich der Träume entschwinde, frage ich mich noch, wie eigentlich Nichtstun so müde machen kann.